Ein Gedichtvergleich
Die Gedichte, „Todesfuge“ von Paul Celan und „Inventur“ von Günter Eich, thematisieren auf lyrische Weise die schrecklichen Erfahrungen des Nationalsozialismus. Die Abiturientin, Mia Cordts-Sanzensbacher, verglich diese beiden Klassiker auf besonders erhellende Weise:
Vergleich von Nachkriegsgedichten „Todesfuge (v. 1945)“ und „Inventur (v.1945 / e. 1047)“
Günter Eichs Gedicht „Inventur“ und Paul Celans „Todesfuge“ sind die vielleicht berühmtesten Exemplare deutscher Nachkriegsliteratur. Die Erfahrung des Nationalsozialismus wird von den beiden Schriftstellern jedoch sehr unterschiedlich verarbeitet.
„Todesfuge“ entstand, als Paul Celan mit gerade mal 24 Jahren aus dem rumänischen Arbeitslager in seine Heimatstadt zurückkehrte. Seine Eltern waren in einem Konzentrationslager ums Leben gekommen. Diese schreckliche Situation mit ihren bedrückenden Bildern bildet die Grundlage für das Gedicht. Es befasst sich mit den Vernichtungslagern und dem Leid der Opfer.
Es wird ein Lagerkommandant beschrieben, welcher zunächst einen Brief an seine Geliebte in Deutschland schreibt – woraus sich schließen lässt, dass er sich wahrscheinlich in Polen befindet. Anschließend begibt er sich ins Freie, wo er seinen jüdischen Häftlingen Befehle gibt. Sie müssten ihre eigenen Gräber schaufeln, andere sollten zum Tanz aufspielen, zusätzlich peitscht der Wärter einige Gefangene. Die Häftlinge sehen ihrem Tod entgegen, erkennen ihre Chancenlosigkeit und ergeben sich ihrer Situation.
Obwohl die direkte Nachbildung der Vernichtung vermieden wird, ist das Gedicht durch seine Bildlichkeit düster und deprimierend. Besonders auffällig sind die Wiederholungen von vier Bildkomplexen, die sich durch das gesamte Gedicht ziehen: das Oxymoron „Schwarze Milch der Frühe“ am Anfang jeder Strophe, der „Mann im Haus“, „dein goldenes Haar, Margarethe“ und „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Diese verdeutlichen vor allem durch die „Schwarze Milch“, die immerzu getrunken wird, den allgegenwärtigen Tod in den Konzentrationslagern; die „Schwarze Milch“ und das „aschene Haar“ könnten auch den Rauch aus den Krematorien verdeutlichen.
Bei dem Aufbau des Gedichtes bedient sich Celan der „Bachschen Fuge“, ein musikalisches Kompositionsprinzip, das aus Thema und Gegenthema und aus verschiedenen Durch- und Weiterführungen besteht. Celan überträgt dieses Schema in Wort-Bildfolgen: Die in der ersten Strophe gegenübergestellten Bilder von Opfer und Täter werden in den folgenden Strophen wiederholt und variiert, um dann am Ende wieder zusammengefügt zu werden. Das Gedicht in seiner perfekt durchkomponierten Form soll einen Bezug herstellen zum „perfekt“ organisierten und geplanten Massenmord durch die Nationalsozialisten.
Häufig sind ebenfalls Gegenüberstellungen wie „Wir trinken“ und „ein Mann wohnt im Haus“ oder „dein goldenes Haar Margarethe“ und „dein aschenes Haar Sulamith“. Auf der einen Seite stehen die Opfer, mit denen sich der Sprecher als „Wir“ identifiziert, die draußen ihr eigenes Grab schaufeln müssen – das Gedicht ist also aus der Opferperspektive verfasst – auf der anderen Seite befindet sich „ein Mann“, der Lagerkommandant, der hier stellvertretend für die Täter steht. Er befindet sich im Haus, verteilt von dort Befehle und schreibt einen Brief an eine Frau, die durch ihre Attribute wie „goldenes Haar“ und ihrem Namen Margarethe als Prototyp der deutschen Frau dargestellt wird. Diese Gegenüberstellungen erzeugen eine dramatische Spannung.
Die freien Verse mit freien Rhythmen verzichten vollständig auf Satzzeichen, was die nicht enden wollenden Grausamkeiten verdeutlichen könnte. Der einzig vorhandene Reim befindet sich an der einzigen Stelle, wo die Ermordung der Juden konkret beschrieben wird: „sein Auge ist blau/er trifft dich genau“. Dieser Satz sticht dadurch hervor und gleicht in seiner Wirkung dem beschriebenen Todesschuss.
So fern die sachliche lyrische Bestandsaufnahme Eichs auch dem bewegenden Gesang Paul Celans zu sein scheint, so wird doch die gleiche Zeit verarbeitet, mit der sich die Nachkriegsliteratur nach 1945 zu befassen hatte und in deren Zentrum Auschwitz und der Holocaust stehen.
Von Auschwitz allerdings und von den gerade überstandenen Schrecken des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkrieges ist in „Inventur“ an keiner Stelle die Rede. Der Sprecher scheint das Offensichtliche zwanghaft nicht erwähnen zu wollen, sondern zählt lediglich in einem nüchternen und sachlichen Ton seine Habseligkeiten auf. Diese sind wahrscheinlich auch die Alltagsgegenstände des deutschen Offiziers Günter Eich gewesen, der 1945/46 in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager am Rhein interniert war.
Das lyrische Ich in diesem Gedicht besitzt außer seiner Kleidung einen Teller, Becher, Rasierzeug, Bleistift, Notizblock und Handtuch und „einiges“, was er „niemand verrät“ (vgl. Z. 15 f.). Wertvoll und besonders wichtig sind ihm seine Konservenbüchse, in die er seinen Namen eingeritzt hat, sowie seine Schreibutensilien. Die persönliche Relevanz dieser Gegenstände für das lyrische Ich wird besonders durch den häufigen Gebrauch von Possessivpronomen deutlich (z.B. Z. 6 „Mein Teller, mein Becher“).
Die Verse sind kurz, das Gedicht kommt ohne Umschreibungen oder sprachliche Bilder aus. Besonders auffällig ist der sachliche Ton der Inventur, der nur manchmal durch Wertschätzungs- und Liebesbekenntnisse unterbrochen wird (z.B. Z. 21 f. „Die Bleistiftmine lieb ich am meisten“). Insgesamt betrachtet wirkt das Gedicht fast anti-lyrisch oder unpoetisch, da der Autor mit Ausnahme von Enjambements komplett auf sprachliche Bilder verzichtet und sich so kurz und präzise wie möglich hält. Diese Merkmale sind typisch für die Trümmer- oder auch Kahlschlagliteratur, welcher „Inventur“ zuzuordnen ist.
Der „Kahlschlag“ der Sprache, der sich auch vom Pathos des Nationalsozialismus loszulösen versucht, wird hier besonders deutlich. Die Monotonie des Gedichtes könnte auf die verweisen, die auch in den Gefangenenlagern geherrscht haben muss.
Paul Celan versucht in „Todesfuge“ ein Bewusstsein zu schaffen für das unvorstellbare Geschehen des Holocaust, indem er in seinem bildlichen Gesang immer wieder auf die Grausamkeit der Lager sowie auf die unermesslichen Leiden der Opfer hinweist. Die poetische und rhythmisch fließende Sprache, die verwendet wird, fügt scheinbar unvereinbare Gegensätze zusammen: der romantische Briefeschreiber und der gleichzeitig skrupellose Täter, Sentimentalität und Grausamkeit. So wird Eindimensionalität vermieden und für ein Leid, das sich nur schwer in Worte fassen lässt, ein poetisches Gleichnis geschaffen, das zutiefst bewegt und erschüttert.
Obwohl beide Gedichte zur gleichen Zeit entstanden sind, spiegeln sich darin sehr unterschiedliche Geschichtserfahrungen wider. Celan beschreibt die Sicht der Opfer, Eichs Gedicht ist hingegen aus der Täterperspektive geschrieben. Anstatt wie Celan das im Holocaust Erlebte zu verarbeiten, entscheidet Eich sich für die Verdrängung und klammert sich an das, was ihm noch geblieben ist: das einzige, über das er unmittelbar verfügt und das nicht in verhängnisvolle Zusammenhänge von Täter und Opfer, Schuld und Unschuld, eingespannt ist. Banale Alltagsgegenstände werden zu Dingen von existenzieller Bedeutung; sie geben ihm nach der Kriegserfahrung Stabilität und auch Identität.
Gegensätzlich zu Celans Gedicht des Gedenkens steht Eichs „Inventur“ als Neuanfang und Besinnung auf die Gegenwart – es ist sozusagen seine persönliche „Stunde Null“. Seine Dankbarkeit, den Zweiten Weltkrieg überlebt zu haben, kommt zum Ausdruck. Bescheiden versucht er, seiner Situation etwas Positives abzugewinnen, indem er sich mit seinem Hab und Gut begnügt und darin Sicherheit sucht, um sich nicht mit dem Vergangenen auseinandersetzen zu müssen.
Text: Mia Cordts-Sanzenbacher Q4 (Schuljahr 2020/21)
Bildquellen:
- Paul Celan – © Ullstein, entnommen aus https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/vermessungen/2083072-Paul-Celans-Todesklage-fuer-die-Ueberlebenden.html
- Tote nach einer Massenerschießung ©dpa
- Günter Eich – © Ullstein https://www.leipziger-medienstiftung.de/de/medienpreis/g%C3%BCnter-eich-preis/
- Kriegsgefangenenlager am Rhein. © 2015-2020 LpB Rheinland-Pfalz – Referat Gedenkarbeit, entnommen aus http://rheinwiesen-lager.de/