Schule des Sehens

Zur Vorbereitung unserer Studienfahrt nach Griechenland besuchten wir am 22. März 2010 einen Workshop im Institut für Klassische Archäologie, der von Frau Moede, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin betreut wurde. Sie hatte eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet, kürzte ihren Vortrag allerdings für uns an einigen Stellen und legte die Schwerpunkte folgendermaßen fest:

1. Was ist klassische Archäologie?
2. Schule des Sehens anhand von Beispielen in Athen, namentlich

  • die Agora
  • die Akropolis

3. Plastik / Skulptur

Diese Punkte werde ich nun näher erläutern.

1. Was ist klassische Archäologie?

Im Zentrum der Aufmerksamkeit der klassischen Archäologen liegen Griechenland, das ehemalige Römische Reich, Kleinasien und teilweise auch Nordafrika (Ägypten), Spanien und einige Teile Mitteleuropas (Frankenreich, Germanien). Sie beschäftigt sich mit einem Zeitraum von der prähistorischen Zeit bis ca. 500 n. Chr. (Untergang Roms). Den essentiellen Aspekt der Archäologie stellen die materiellen Hinterlassenschaften von Kulturen dar. Es gibt verschiedene Fachgebiete, zum Beispiel: Skulptur, Architektur, Plastiken, Keramik und Münzen.
Frau Moede erzählt uns, dass gerade die Münzen ein besonders großartiges Fundstück für Archäologen sind, denn ihnen kann man vieles entnehmen, wie zum Beispiel Aussehen und Namen eines Kaisers, aber auch Prägezeichen zu einer bestimmten Zeit, weshalb Münzen die zeitliche Einordnung enorm erleichtern.

2. Schule des Sehens anhand von Beispielen in Athen:

Was lässt sich zunächst allgemein am Grundriss der Stadt Athen feststellen? Es gibt eine breite Stadtmauer, eine Agora, eine Nekropole (Kerameikos, der Friedhof), und die höher liegende Akropolis, die allesamt herausstechen. Frau Moede erklärt, dass sie uns hier zwar nur Athens Grundstruktur zeigt, dass wir jedoch von diesem Stadtplan für viele griechische Städte ausgehen können, denn Athen galt als Musterstadt und viele eiferten ihrem Beispiel nach.

Die Agora von Athen (im 2. Jh. v. Chr.):

Am Grundriss der Agora erkennen wir einen zentralen, großen Festplatz, eine Stoa (überdachter Säulengang), ein Verwaltungsgebäude auf der Westseite und vier Eckpfeiler, die als Grenzsteine der Agora dienten. Die Grabungen im Bereich der Agora begannen erst im 19. Jahrhundert und an dieser Stelle erklärt Frau Moede uns auch, welche Schwierigkeiten sich den Archäologen manchmal in den Weg stellen. Denn natürlich kann man nicht einfach bewohnte Häuser abreißen und Grabungen vornehmen. Deshalb vermutet man noch viele tausend unentdeckte Schätze und Hinterlassenschaften an Stellen, die aufgrund von Überbauung schwer zugänglich sind. Die Agora in Athen wird allerdings heute noch von Archäologen erkundet, unter anderem von der American School of Classical Studies. Über die Agora in Athen wissen wir aber vor allem auch eine Menge, weil ein griechischer Geschichtsschreiber namens Pausanias uns haargenau beschrieb, wie sie aussah und welche Gebäude welcher Funktion dienten. Seine Beschreibung Griechenlands stellt überhaupt eine der wichtigsten erhaltenen schriftlichen Quellen für Archäologen dar.

Im Folgenden schauten wir uns die Grenzsteine genauer an, die die noch gut lesbare Inschrift ὅȡοȢ εἰȝὶ IJῆȢ ἀγοȡᾶȢ – Ich bin die Grenze der Agora – tragen. Zutritt zur Agora, so erklärt uns Frau Moede, wurde allerdings nicht allen gewährt, zum Beispiel hatten Verräter am Staat und Deserteure sowie andere Verbrecher, keinen Zutritt. Dass die Agora auch eine wesentliche Handelsstelle Athens war, lässt sich aufgrund der Fundstücke in diesem Bereich belegen: Man fand Maßbecher, Maßtische und –reliefs, mit denen man wohl die Ware gemessen hat, man nahm es schon damals sehr genau. Auch eine Losmaschine (Kleroterion) z. B. für die Auslosung der Richter und eine Klepsydra (ein Zeitmessgerät, das mit Wasser funktioniert)wurden dort gefunden, was vermuten lässt, dass auf dem Platz der Agora auch oder Abstim-
mungen und Redeveranstaltungen verschiedener Art stattgefunden haben müssen.

Die Akropolis:

Frau Moede zeigte uns zwei verschiedene Grundrisse der Akropolis, die etwas zeitversetzt waren. Auf dem einen befand sich ein Vorgängerbau des Parthenon-Tempels im Entstehungsstadium, auf dem anderen der Parthenon, wie wir ihn heute kennen. Sie weist uns darauf hin, dass sich Archäologen stets über konkrete Zerstörungsdaten von Gebäuden freuen; da man weiß, dass während der Perserkriege die Akropolis weitgehend zerstört wurde, darf man also davon ausgehen, dass der Parthenon-Tempel nach 480 v. Chr., also nach den Perserkriegen, neu erbaut wurde. Auch andere Dinge, wie zum Beispiel die Ausrichtung der Propyläen (Torbau) haben sich verändert. Auf dem zweiten Grundriss und auch anderen (aktuellen) Bildern erkannten wir den Parthenon, das Erychtheion, den Nike-Tempel und die Propyläen sowie einige Schatzhäuser. Wir klärten ebenfalls die Funktionen der einzelnen Gebäude, die ich hier allerdings nicht näher erläutern werde, da dazu noch Referate in Griechenland folgen werden.

3. Plastik / Skulptur:

Frau Moede legte einen Schwerpunkt besonders auf Plastiken und Skulpturen, da an ihnen zeitliche Einordnung recht leicht fällt, und sie auch bei unserer Griechenlandreise eine ganz wesentliche Rolle spielen werden. Für alle, die den Unterschied zwischen Plastiken und Skulpturen nicht ganz verstanden haben (dieser Punkt ging etwas unter): Plastiken (πȜαıIJȚțὴ IJέχȞη = formende („bildende“) Kunst) werden aus Material geformt. Typische Materialien sind Ton (siehe auch Terrakotta und Keramik), Bronze und Wachs. Salopp gesagt ist also alles, wo etwas „rangepappt“ oder in eine Form gegossen wird, eine Plastik.
Eine Skulptur hingegen leitet sich vom lateinischen Wort sculpere (= schneiden) ab und gehört ebenso wie die Plastik der Gattung der Bildhauerei an, besteht aber meist aus festerem Material (Stein, Marmor, Holz) und wird aus einem großen Stück geschnitzt oder gemeißelt. Das heißt also, bei der Skulptur entsteht die Form durch Wegnahme von Material, bei der Plastik durch Addition von Material.

Wir haben die wichtigsten Epochen der Bildhauerei und ihre Merkmale kurz umrissen:

  • Geometrische Epoche (1100 bis 650 v. Chr.)
  • Archaische Epoche (650 bis 480 v. Chr.)
  • Klassische Epoche (ca. 480 bis 330 v. Chr.)
  • Hellenistische Epoche (330 bis 27 v. Chr.)

In der Geometrischen Epoche entstanden die ersten Darstellungen von Menschen und Tieren auf Kera-miken, sowie kleine Reliefs und kleine Plastiken. Ihre Körper bestanden aus geometrischen Formen, zumeist Dreiecken und Kreisen, und ließen sich nicht durch besondere Merkmale unterscheiden. Soldaten erkannte man beispielsweise an einem kreisförmigen Schild, der ihnen gegeben wurde. Vieles glich der ägyptischen Darstellung von Menschen, da auch hier nur im Profil gearbeitet wurde und die Körperhaltung im Grunde stets die gleiche war, ob liegend oder stehend. Frau Moede erklärte uns, dass der Schwerpunkt der Geometrischen Zeit eben auf den Formen und Mustern lag und nicht auf einer haargenauen Darstellung von Personen.

Die Archaische Epoche zeigt schon eine deutlich differenziertere Darstellung von Menschen. Zwar wirkt die Körperhaltung immer noch sehr statisch und streng (oft hängen die Arme gerade herunter, mit eng am Schenkel liegenden Handflächen, und ein Fuß wird vor den anderen gesetzt, ohne dass sich das Bein ergonomisch an die Bewegung anpasst), jedoch werden nun Details vor allem in Gesicht und Haar sowie Muskeln deutlicher hervorgehoben. Besonders die Zöpfe, die perlenartig wirken, und die feingezeichneten Augen stechen hervor. Insgesamt wirkt die Darstellung sehr ornamenthaft und die Körperteile werden einzeln, nicht als großes Ganzes hervorgehoben. Wenn eine Statue nicht stand oder diesen Schritt ausführte, so saß sie oder wurde nach dem sogenannten Knie-Lauf-Schema in Bewegung gesetzt. Diese Pose sollte schnelle Bewegung darstellen, und zeigt eine Figur die auf einem Bein steht und das andere fast rechtwinklig nach hinten abknickt, als würde sie rennen. Dieses Knie-Lauf-Schema ist ein besonderes Merkmal der Archaik.

Frau Moede erzählte uns, dass Archäologen oft scherzhaft „Lockenzähler“ genannt werden, weil sie sich natürlich entsprechend auf solche Details wie die Haare konzentrieren, um Darstellungen von Personen zeitlich einordnen und vergleichen zu können. Sie zeigte uns zwei Büsten des Perikles (wir wissen, dass er es sein muss, weil bei einer praktischerweise die Inschrift zu entziffern ist) und ließ sie uns vergleichen. Dabei stellten wir fest, dass durch die Augenlöcher seines Helmes sein Haupt-haar zu erkennen ist. Frau Moede stellte dazu zwei Thesen in den Raum; entweder Perikles war tatsächlich ein „Zwiebelkopf“, wie ihm nachgesagt wird, oder aber es ließ sich anders nicht konstruieren, da es schwierig ist, das Material unterm Helm von außen auszuhöhlen. Manchmal, so Frau Moede, sei es wichtig, nicht ständig die Dinge bis aufs haarsträubendste Detail zu analysieren und interpretieren, sondern die Dinge pragmatisch zu betrachten, vor allem in der Archäologie sei zu viel Interpretation ab und zu irreführend.

Die Großplastik, die in der Archaischen Zeit ihren Anfang hatte, gewann in der Klassischen Zeit nun an Bedeutung und Beliebtheit. In Tempeln oder Gräbern gab es als Beigabe oft Statuen, die Attribute trugen und oft zentrale Bedeutung im Raum einnahmen. Viele waren überlebensgroß. In der Klassischen Zeit nahmen diese Statuen nun immer mehr Raum ein, sie
wirkten weniger statisch, sondern bewegter, entspannter und dementsprechend auch realer. In dieser Epoche wurde Bewegung nun nicht mehr durch das Knie-Lauf-Schema dargestellt, sondern anhand der organischen Beziehung der Kleidung zum Körper. Das Gewand, das die Figur trug, warf nun anmutige Falten, wie vom Wind bewegt und schmiegte sich so um den Körper. Um dies darzustellen, reichten gezeichnete Linien nicht mehr aus; der Künstler musste mit anderem Werkzeug und mehr in die Tiefe arbeiten.

Wirkten die Skulpturen und Plastiken der Klassischen Epoche schon sehr real, so fand die realistische Darstellung in der griechischen Bildhauerei zur Zeit des Hellenismus ihren absoluten Höhepunkt. Die Skulpturen beschränkten sich nicht nur mehr auf die Darstellung einer Person oder eines Tieres, sondern wurden nun ganze Gruppen gezeigt, die viel Raum einnahmen. Ganze Mythen und Geschichten wurden in Bildhauerei verarbeitet. Weder der Dimensionalität noch der prunkvollen Ausstattung von Attributen wurden Grenzen gesetzt.

Abschließend schauten wir uns noch weitere Bilder von Skulpturen und Plastiken an, und verglichen die einzelnen Merkmale der Epochen. Dabei erklärt uns Frau Moede das archäologische Sehen bzw. Betrachten eines Kunstwerkes. Man schaut sich zunächst das Gesamtbild an und beurteilt es, und geht danach erst auf die Details ein. Auf diese Weise verliert man sich
nicht in Kleinigkeiten, ehe man weiß, womit genau man es zu tun hat.

Text: Lotte Barthelmes, 2. Semester (Schuljahr 2009/10)
Fotos: Frau Dr. Weber (Schuljahr 2009/10)